Jeden Morgen trafen sie sich am Brunnen. Eine Mädchenclique. Wobei: Viel Clique war da nicht. Es gab nur eine Handvoll von ihnen. Sie waren zwischen 14 und 16 und lebten noch bei den Eltern. Waren also noch nicht verheiratet. Worden. Die Mutter schickte sie jeden Morgen zum Wasserholen.
Rivka und Sara waren wie immer als erste da. Hatten es auch nicht so weit zum Brunnen.
„Alter, ist das heiß!“ stöhnte Rivka. „Wird es echt schon wieder Frühling?“
„Ich glaub ja eher, dein Körper spielt wieder verrückt!“ zog Sara sie auf.
„Hör mir auf damit! Kann ich was dafür? Mal schwitze ich und mal ist mir kalt, und dann kommen die Bauchschmer-“ sie wimmerte und hielt sich die Hüfte.
„Schon wieder?“ fragte Sara.
„Ich hab echt keine Ahnung, wie viele Tage es dauert. Völlig unregelmäßig.“
„Wie oft hattest du sie denn schon?“ fragte Sara.
„Viermal.“
„Wird sich noch einpendeln. Dann weißt du wenigstens, wann du mit dem Ärger rechnen musst. Aber guck mal. Da kommt Mariam. Wie immer ein bisschen später.“
Von der anderen Ecke des Platzes näherte sich ein schwarzer Lockenkopf mit einem Mädchen drunter. Sie wippte vor sich hin, den Wasserkrug trug sie lässig in einer Hand. Kaum war sie in Hörweite, rief sie:
„Shalom, Ladies! Was geht?“
„Shalom, Mariam. Du bist ja wieder gut drauf“, antwortete Sara.
„Der Hinweg ist immer leichter, und nach dem Rückweg kann ich mich ausruhen.“
„Ich weiß gar nicht, ob ich den Rückweg schaffe“, keuchte Rivka.
Mariam blickte sie nur kurz an und fragte: „Schon wieder?“
Rivka nickte bloß.
„Besser, du gewöhnst dich dran. Wird noch oft genug vorkommen“, meinte Mariam.
„Du hast gut reden“, sagte Sara, „Bei dir ist es ja bald erstmal wieder vorbei mit jedem Monat.“
„Was willst du damit sagen?“ fragte Mariam, ein bisschen spitz.
„Hört man doch immer wieder. Kaum ist eine verheiratet worden, wird sie schwanger, kriegt ein Kind nach dem andern. Und dann ist es mit diesen Schmerzen erstmal vorbei.“
„Und du meinst, bei mir läuft das auch so, oder was?“
„Ich will ja nichts sagen, aber deine Mutter hat’n guten Geschmack. Dein Zukünftiger ist Zimmerer, jeden Tag auf dem Bau.“
„Und?“
„Der dürfte körperlich fit sein, oder?“ Sara grinste, selbst Rivka kicherte leise, Mariams braunes Gesicht wurde noch ein bisschen dunkler.
„Kann ich nichts zu sagen. Josef ist schon okay. Aber eins nach dem andern.“
„Ist dir das peinlich, Mar?“ lachte Sara.
„Gar nicht, ey. Ist nur … naja … anders. Bald komme ich nicht mehr morgens zum Brunnen. Die Ehefrauen haben andere Zeiten, und die Mütter erst. Und wenn wir uns doch sehen, wollt ihr bestimmt nur wissen, wie es so ist.“
„Es?“
„Das Eheleben!“ betonte Mariam etwas zu genau.
„Hast du etwa Schiss, Mariam?“
Mariam nahm eine Handvoll Sand vom Boden und warf sie Sara gegen die Brust. Die Augen blitzten, aber sie lachten sich an.
„Ich hab doch keinen Schiss, Sara.“
„Mariam hat vor nichts Angst, Rivka!“ rief Sara.
„Klar!“ lächelte Rivka.
„Doch schon“, gestand Mariam. „Ich hab Angst vor dem, was kommt. Weil ich’s nicht kenne. Ich meine, ich will schon gern irgendwann selber Mutter sein. Aber wieso hat der Allmächtige“
„Gepriesen sei er!“ warf Rivka ein.
„Gepriesen sei er“, erwiderte Mariam, „Warum hat er es so schwierig gemacht?“
„Genau, ey!“ meinte jetzt wieder Sara. „Wisst ihr, wie viele Mütter bei der Geburt sterben?“
„Und manche überleben, aber dann stirbt das Kind“, flüsterte Rivka.
„Auch scheiße!“ brummte Mariam. „Da hast du einen Menschen 9 Monate in dir getragen, und dann siehst du, wie er stirbt.“
„Kann manchen auch noch passieren, wenn das Kind groß ist.“
„Ja, wenn er sich mit den Römern anlegt. Sollte man nicht machen.“
„Sei nicht so streng. Sie wollen unser Volk befreien!“ rief Sara. „Rivkas großer Bruder ist auch dabei.“
„Dann soll er aufpassen. Die meisten kommen nicht wieder. Und dann, Rivka, wird dein Mann den Besitz deiner Eltern erben.“
„Ich hab ja noch nicht mal nen Mann.“
„Kommt noch.“
„Weiß gar nicht, ob ich das will“, meinte Rivka. „Ich meine, Geburt, Lebensgefahr, fett werden, und das mit dem Mann, muss das sein? Warum hat der Allmächtige“
„Gepriesen sei er“, sagten die drei im Chor.
„Warum hat er es so eingerichtet?“
„Angeblich finden einige Frauen es ganz schön“, meinte Sara.
„Aber andere nicht!“ schnappte Rivka. „Ich will nicht sagen, dass der Allmächtige, gepriesen sei er, ungerecht sei. Aber…“ sie schweig, und setzte nach einer Weile hinzu: „Da blute ich lieber einmal im Monat.“
„Jetzt übertreib mal nicht, Riv!“ sagte Mariam. „Wir helfen dir jetzt erstmal deinen Krug nach Hause tragen, und dann ruhst du dich’n bisschen aus.“
Sie fasste Rivkas vollen Krug mit der einen Hand am einen Henkel. In der andern hielt sie ihren eigenen leeren Krug. Rivka hob ihren am anderen Henkel.
„Kinder bekommen ohne Mann, das wäre was, oder?“ feixte Mariam auf dem Weg.
„Mach keine Witze!“ sagte Rivka leise. „Ich weiß nicht, wie genau es eingerichtet ist, aber dass es ohne diese Sache mit dem Mann nicht geht, weiß jede Frau.“
„Und stell dir mal vor, Mar“, warf Sara ein, „du hast auf einmal einfach so ein Baby im Bauch.“
„So wie in dem alten Text, ne?“ Mariam richtete sich auf und rezitierte, wie auf einer Bühne: „Eine Jungfrau ist schwanger!“ Die drei kicherten.
„Ist angeblich auch gar nicht so gemeint“, sagte Rivka. „Das alte Hebräisch ist nicht so eindeutig, und die Griechen sollen dann erst die Jungfrau draus gemacht haben.“
„So genau kann ich nur unser Aramäisch“, meinte Mariam. „Wozu soll ich andere Sprachen lernen, wenn ich später doch nur zu Hause bin und Kinder kriege.“
„Aber Griechisch ist wichtig, das kann jetzt jeder“, erwiderte Rivka, „Spricht dein Josef bestimmt auch.“
„Aber nun stell dir mal vor, du erwartest ohne Mann eins“, beharrte Sara.
„Das würden die Männer nicht lustig finden! Frauenbefreiung!“ rief Mariam, ein bisschen zu laut. Das Echo kam von der Hauswand zurück.
„Aber vor allem würde dir keiner glauben.“
„Stimmt!“ Mariam wurde verlegen. „Ey, die steinigen mich oder so was Krasses!“
„Das vielleicht nicht gleich, aber wenn’s kein Sohn wird, kannst du die Altersabsicherung vergessen. Dann wärst du ausgestoßen.“
„Auch nicht so cool. Dann doch lieber mit echtem Vater.“
Sie waren angekommen. Rivka trug den Krug das letzte Stück ins Haus, Sara ging mit ihrem Krug noch ein Stück weiter.
Mariam kehrte zum Brunnen zurück, um ihren Krug zu füllen. Sie blickte zur Sonne.
„Alter, wie spät am Tag ist es schon“, murmelte sie. „Da wird Mutter sicher denken, ich hätte mich heimlich mit Jo getroffen. Peinlich“, aber sie grinste dabei. Als er vor ihr stand.
Wo er hergekommen war, wusste sie nicht. Sie konnte sonst Schritte hören. Er sah nicht schlecht aus, vertraut, aber auch fremd. Aber vor allem kam er praktisch aus dem Nichts.
Mariam stand wie angewurzelt da. Oder wie man dort sagte: „Wie Lots Frau“. Da sprach er zu ihr: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.“
„Was geht denn hier ab?“ brach es aus ihr heraus. Und dann sprach sie leise zu sich selbst: „Das muss die Sonne sein, ey. Was ist das bitte für ein seltsamer Gruß? Und wer ist der Typ überhaupt? Was mache ich hier?“
Und sie tat, was jedes Mädchen in Nazareth und anderswo getan hätte: Sie ließ den Krug stehen und rannte davon. Die Straßen der Stadt kannte sie wie keine andere. Links an der Werkstatt vorbei, zwei Häuser weiter, wieder um eine Ecke, neben dem Schafgatter rechts, „Das muss die Sonne sein, was sonst?“ keuchte sie, jetzt immer geradeaus bis zur Synagoge und dann… Da stand er vor ihr.
Sie bremste so stark, dass sie hintenüber in den Staub fiel. Ich muss schnell aufstehen, dachte sie, sonst wird er-
„Fürchte dich nicht, Mariam, du hast Gnade bei Gott gefunden“, sagte er.
„Die brauch ich jetzt auch, glaub ich!“ murmelte sie leise vor sich hin, während sie sich aufsetzte. Aber wieso kennt er meinen Namen?
„Siehe“, sagte er, und sie sah ihn an. Das war kein gewöhnlicher Mensch. Aber er war auch keine Einbildung, das merkte sie. Er öffnete wieder den Mund:
„Du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben.“
Mariam blinzelte. Die Worte, die sie sagen wollte, drehten sich in ihrem Kopf. Aus ihrem Mund kam nichts, aber dieser Gottesbote, oder was immer es war, sprach weiter.
„Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.“
„Okaaaay…?“ murmelte Mariam. „Aber wie soll das gehen? Dazu hätte ich doch mit einem Mann, also, und ich wüsste nicht, also ich hab noch nie …“
Der Bote streckte die Hand zu ihr aus. Sie griff danach. Stand vorsichtig auf. Sie blickte sich um. Der Fluchtweg nach hinten war frei. Aber was würde das nützen? Also versuchte sie, ihn fragend und herausfordernd anzublicken. Ob es ihr gerade gelang, würde sie nie erfahren. Denn der Bote antwortete:
„Der heilige Geist wird über dich kommen…“
„Ruchah, äh, die Ruach?“ verbesserte sich Mariam schnell. Das Hebräisch der Mütter und Väter aus den Schriften fühlte sich richtiger an als ihr Alltagsaramäisch. Bei diesem Wesen. Und bei diesem Thema. „Krass!“ setzte sie hinzu
„… und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“
„Oh!“
„Darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“
„Sohn Gottes gleich? Hätte Messias fürs Erste nicht gereicht? Nee, im Ernst jetzt, warum sollte ich das glauben?“
„Siehe!“ sagte der Gottesbote. Und sie sah. Ihm direkt ins Gesicht. Ihr schien, er würde lächeln. Über den Messias-Spruch? Er erklärte es nicht:
„Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn“
„Elisabeth, die ist doch irgendwie 70 oder sowas? Und ist sie nicht…“
„In ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, dass sie …“
„… unfruchtbar?“
„… unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.“
„Das weiß ich wohl. ‚Der Allmächtige, gepriesen sei er‘ und so. Aber wir hatten das mehr so allgemein gesagt.“
Der Bote blickte sie an. Wartete er auf etwas? Für einen Moment ging sein Blick über ihre Schultern. Sie drehte sich um. Da war nur der leere Weg. Der Fluchtweg? Oder ein anderer Weg?
„Elisabeth ist schwanger?“ flüsterte sie. „Das will ich sehen.“
Der Bote stand immer noch da. Warum verschwand er nicht? In den Schriften taten das die Malachim – oder die Angeloi, wie die Griechen sagten – doch immer: Sagten, was zu sagen war, und verschwanden.
Wartete er auf etwas? Er blickte ihr jetzt wieder direkt ins Gesicht. Sollte das fragend oder herausfordernd sein? Sollte sie etwas sagen?
„Also was du mir gerade erzählt hast, klang jetzt nicht so, als würde ich ne Wahl haben, oder?“ Die Worte klangen richtig, fühlten sich aber nicht so an.
„Ich meine, der Allmächtige, gepriesen sei er, ist der Boss, oder?“
Der Bote schaute jetzt wieder über ihre Schultern. Auf den Fluchtweg?
„Siehe!“ sagte Mariam, und der Bote sah sie an. Direkt ins Gesicht. „Ich bin des Herrn Magd.“
Die Augen des Boten weiteten sich ein bisschen. Er öffnete die Hände, als wollte er fragen: „Und?“
Mariam bekam die Worte fast nicht heraus, und gleichzeitig konnte sie nicht anders, als sie zu sagen. So brachen sie hervor, gemeinsam mit den Tränen: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Sie war allein. Die Sonne stach. Der sandige Weg lag hinter ihr. Wenn sie sich umdrehte, vor ihr.
„Was war das denn?“ fragte sie sich selbst. Sie hoffte, dass jetzt niemand da war und zuhörte.
„Muss die Sonne gewesen sein. Klar. War ne harte Woche.“ Sie strich sich den Sand von der Kleidung. „Schwanger, ich, ohne Mann, ja nee is klar. Aber schwanger? Elisabeth? Ich hab sie lang nicht besucht. Ich könnte ja mal, ganz unverbindlich, also nicht, dass ich es glauben würde. Ich hab mir irgendwas zusammengeträumt. Aber ich war wirklich lange nicht bei ihr.
Ich muss das Rivka und Sara – oder besser nicht. Die glauben mir doch nicht. Aber Eli könnte ich besuchen.“ Sie war immer noch etwas benommen. „Meine Fresse, was war das? Die Männer würden sagen, ich brauche jetzt erstmal einen Schluck -oh!“
Wo eben der Bote gewesen war, stand ihr Wasserkrug, bis zum Rand gefüllt. Der Weg nach Hause war kurz. Aber Mariam hatte einen längeren Weg vor sich.