Pastor Andreas Wendt

Kirchengemeinderatssitzung Jerusalem Juni 33

Der Vorsitzende Jakobus von Nazareth, Sohn von Maria und Joseph, eröffnete die Sitzung. Mit Jakobus wussten die meisten nichts anzufangen. Er war ein Bruder Jesu. „Halbbruder“, wie Maria nicht müde wurde zu betonen – aber keiner der Männer traute sich zu fragen, was sie damit meinte.
Als die 12 noch mit Jesus durchs Land gezogen waren, hatte Jakobus sowas gesagt wie „Jesus ist psychisch krank“ und drastischeres. Aber nach der Auferstehung hatten die beiden sich getroffen, und seitdem war Jakobus ein glühender Verehrer seines Bruders. Es lag nahe, dass er eine wichtige Rolle in der Bewegung spielen sollte. Andererseits fehlten ihm die Erfahrung und das Wissen der andern. Man griff auf die jahrtausendealte Lösung zurück und gab ihm eine Leitungsaufgabe.

So eröffnete Jakobus die Sitzung des Kirchengemeinderats Jerusalem. Einziger Tagesordnungspunkt war „Auswertung der Ereignisse vom letzten Wochenende und weiteres Vorgehen“. Prima, dachte Jakobus, dann sind wir vielleicht bis zum Wagenrennen fertig.

Matthäus meldete sich zu Wort. Matthäus hatte früher beim Zoll gearbeitet. Er konnte rechnen. Seit Judas nicht mehr dabei war, sah er es als seine Aufgabe, die nüchternen Zahlen nicht zu vergessen. Alle wussten, er würde nie so gut werden wie Judas, aber keiner erwähnte es.

„Männer, Brüder, Marias!“ erhob Matthäus seine Stimme, „Die Aktion am letzten Sonntag war sicher außergewöhnlich. Einige hier wirken immer noch wie berauscht vom Heiligen Geist.“

„Ameeeen!“ rief Thomas, der in seiner Ecke auf dem Boden kauerte.

„Und ich möchte sagen, Simon Petrus, deine Stegreifpredigt vor all den Leuten – das war fürs erste Mal richtig gut. Etwas traditionell im Inhalt, aber deine Stimme hat einiges wieder wettgemacht.“

Petrus wusste nicht, was er mit dieser Rückmeldung machen sollte. Er schwieg besser.

„Aber es ist jetzt Zeit, sachlich Bilanz zu ziehen. Ich hab mal meine alten Kontakte spielen lassen und kann euch sagen: Nach ersten Schätzungen der Römer ist die Gesamtbevölkerung Jerusalems zum Fest auf rund eine Million angewachsen.“

Ein erstauntes Raunen ging durch die Runde.

„Wie viele aber sind zur Gemeinde gekommen? 3000. Hat jemand von euch mal was von Prozentrechnung gehört?“

„Wir hatten Besseres zu tun als für die Römer zu arbeiten!“ grummelte Simon. Er hatte früher Römer umgebracht, bis Jesus ihn in sein Team rief.

„0,3 Prozent! Das ist fast nichts! In der neuesten Religionenstatistik fallen wir unter ‚sonstige‘! Ich will hier nicht eure Euphorie dämpfen, ich will auch nicht immer als Meckerpott erscheinen, aber: Das war ja wohl ein klassischer Fehlstart, meine Damen und Herren!“

So hatten die Jünger das noch nie gesehen, aber die Zahlen sprachen für sich.

„Da müssen wir nüchtern fragen: Was haben wir falsch gemacht? Was können wir in Zukunft besser machen? Diese vielen Sprachen, musste das sein? Und Petrus: Wie wäre es, wenn du deine Predigten in Zukunft vorbereitest und diesem Gremium vorlegst? Dann kann man schon mal Feedback geben, Dinge verbessern. Vielleicht könnten wir sie vervielfältigen, dass die Menschen sie zu lesen bekommen, oder wir predigen sie an verschiedenen Ecken. Und nicht zuletzt: Wir könnten sie den Römern vorlegen. Dann ist sicher, dass die kein Problem mit den Predigten haben und wir keins mit ihnen.“

„Das kann ich jetzt nicht glauben!“ meinte Thomas. „Unser Herr hat vor gar nicht mal 8 Wochen den Tod besiegt, und du machst dir Sorgen wegen der römischen Armee?“

„Tommi! Das eine sind die universalen Wahrheiten, das andere ist unser Alltagsgeschäft. Das sollte nichts miteinander zu tun haben.“

„Ich durfte ihn anfassen!“ brüllte Thomas. „Das ist nix univerdingsbums. Das war mein Alltag!“ Die ersten waren sich unsicher, ob Thomas wirklich nur vom Heiligen Geist berauscht war. Aber was er sagte, ließ sich nicht von der Hand weisen.

Der Jünger Andreas, Bruder des Petrus, meinte, es wäre an der Zeit zu vermitteln. „Ich denke mal, ganz egal, wie man die Zahlen interpretiert – wir haben alle einen Konsens, dass das noch nicht das Ende war. Aber wir haben jetzt 3000 Leute mehr, die sind nicht alle aus Jerusalem, die gehen wieder in die Welt. Die werden sicher dort, wo sie herkommen, weiter erzählen, was sie von Jesus gehört haben!“

„Um Himmels willen!“ rief Bartholomäus. „Die haben doch nur eine einzige Predigt gehört. Persönlich gekannt haben sie den Herrn gar nicht. Wenn die jetzt in der Welt was erzählen, und wir können das gar nicht kontrollieren – am Ende kommt noch was völlig Neues dabei heraus!“

In das Gemurmel der Männer mischte sich eine leise Frauenstimme.
„Entschuldigt, wenn ich mich zu Wort melde, Jungs!“ So respektvoll und respektlos gleichzeitig konnte nur eine mit ihnen reden.

„Jederzeit, Mama!“ erteilte Jakobus ihr das Wort.

„Was ist denn mit diesem Geist oder wie sie heißt? Das am Sonntag war doch seine Aktion. Wenn der jetzt wirklich von Junior, also vom Herrn ist, dann müsste die doch eigentlich dafür sorgen, das am Ende alles in seinem Sinn ist!“

„Bei allem Respekt, Maria!“ verneigte sich Matthäus. „Der Geist ist so furchtbar unberechenbar. Unsere Sprachen sind sich ja nicht mal einig, ob es ein er, sie oder es ist. Mal wirkt er sie es, mal nicht. Mal wie erwartet, mal ganz anders. Wir stehen hier vor der Aufgabe, ein weltweites Netzwerk aufzubauen. Da kann man sich nicht auf sowas Unstetiges wie den Heiligen Geist verlassen. Sonst gibt es am Ende noch ein zweites Pfingsten! Mit 0,3 Prozent Rücklauf. Nein, ich schlage vor, wir gründen einen Ausschuss, der einen Plan für die nächsten 3 Jahre entwirft und in der nächsten Sitzung dem Gremium vorlegt. Ich wäre bereit, ihn zu leiten.“

„Judas könnte das besser!“ warf Simon ein. Aber das prallte an Matthäus ab.

„Judas war ein Zahlengenie, zweifellos, aber er ist nicht mehr da. Also ich würde es machen. Außerdem schlage ich Petrus als Prediger vor, Jakobus als Bruder des Herrn!“

„Halbbruder!“ murmelte Maria genervt.

„Und Maria als, äh, Frau! Gibt es weitere Vorschläge?“

Jakobus riss staunend die Augen auf, dann riss er sie wirklich auf und erwachte von seinem Traum. Es war zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Seine Frau schlief friedlich. Jakobus kniete sich neben sein Bett und schickte ein Stoßgebet zu seinem Bruder, dass dessen Kirche niemals so werden möge. In zweitausend Jahren nicht.

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3 Antworten zu „Kirchengemeinderatssitzung Jerusalem Juni 33”.

  1. Avatar von Susan Hölscher
    Susan Hölscher

    Herrlich!

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